Von Bratwurst und Eis am Stiel

Von Simon Bussieweke

Gütersloh (gl). Der größte Gütersloher Chor feiert am Montag Geburtstag. Vor 75 Jahren, am 27. September 1946, wurde der Bachchor gegründet. Damals firmierte er noch unter dem Titel „Evangelischer Bachchor“. Ein Rückblick.

Bestimmt eine Minute lang starrt Sigmund Bothmann in die Luft. Erst legt er das eine Bein über das andere, dann wieder das andere über das eine. „Was sich geändert hat, was sich geändert hat“, murmelt er. Dann schaut er dem Besucher des Hauses der Kirchenmusik in die Augen. „Eigentlich kaum etwas“, sagt er. Seit 1992 leitet Bothmann, ursprünglich aus Regensburg, den Gütersloher Bachchor. Nach wie vor sängen die Männer und Frauen zu Ehren Gottes. Und um die Gemeinde zu erfreuen. Noch immer sei ein Chor einer der wenigen Orte, an denen Menschen zusammenkämen, der als Schmelztiegel der Schichten und Nationalitäten funktioniere.

„Im Knabenchor singt ein neunjähriger syrischer Junge. Sehr talentiert, nächstes Jahr geht er durch die Decke“, sagt Bothmann.

Bei einem Tennis- oder einem Golfclub, selbst im Fußballverein treffe sich eine mehr oder minder homogene Gruppe. Im Chor brauche es keine Schläger, keinen Mitgliedsbeitrag (die Kirche bezahlt den Chorleiter), eigentlich nichts – „außer der schönen Stimme“. Als er 1992 die Leitung des Bachchors übernommen habe, habe er eine Dienstanweisung erhalten, die ihn nicht unbedingt gefreut habe. Wer den Bachchor leite, müsse sich auch intensiv um die Kinderchorarbeit kümmern, hieß es damals (und übrigens auch noch heute) von der evangelischen Kirchengemeinde. In Gütersloh gehören dazu vor allem die Choralsingschule und die Jugendkantorei. „Erst habe ich das nolens volens, wohl oder übel, gemacht. Dann habe ich schnell gemerkt, wie viel von den Kindern zurückkommt“, sagt Bothmann heute.

Die leuchtenden Augen der Jungen und Mädchen, die den Chorgesang für sich entdecken, die richtigen Töne treffen, schwierige Passagen meistern: Sie hätten seine Skepsis weggefegt, sagt Bothmann.

Jetzt, 29 Jahre später, hat er diese Haltung nach wie vor. Immer wieder geht er in zweite und dritte Klassen, um Kinder für den Gesang im Chor zu begeistern – und um Talente zu finden. Auch der Autor dieser Zeilen erinnert sich noch an diesen Tag im Jahr 2003, damals als Neunjähriger in der dritten Klasse, an dem Sigmund Bothmann in den Unterricht kam, um alle Schülerinnen und Schüler die C-Dur-Tonleiter vorsingen zu lassen. Statt die Noten zu benennen, sangen er und seine Klassenkameraden – übrigens einzeln, eine riesige Überwindung – den Text „Bratwurst mit Eis am Stiel“.

Generationen treffen aufeinander

Gütersloh (sib). Es ist die aufwendige Nachwuchsarbeit, die ermöglicht, dass Menschen zahlreicher Altersgruppen sich im Bachchor versammeln. „Wir haben Sängerinnen und Sänger in den 20ern, 30ern, 40ern, 50ern und 60ern. Dann kommt irgendwann die Grenze“, erläutert Sigmund Bothmann. Wer 60 Jahre alt werde, müsse bei einem Vorsingen zeigen, dass die Stimme nach wie vor eine herausragende Qualität habe. Ab diesem Alter lasse die Fähigkeit zum Gesang nach. Das sei ganz natürlich, sagt Bothmann. „Genauso, wie ich nicht mehr so schnell laufen kann, wenn ich älter werde.“

Das Vorsingen selbst sei übrigens für niemanden in den Reihen der Sängerinnen und Sänger des Bachchors ein Problem, sagt Sigmund Bothmann.

Sie lernten von Kindesbeinen an, allein vor anderen zu singen. Das habe einen großen Vorteil: „Sie hören auf ihre Stimme und verschwinden nicht im Tutti, in der Menge.“ Individuelle Fehler könnten nur auf diesem Weg ausgebügelt werden. „Wenn ich den Sängern sage, sie sollen die Lippen runden, um in ihre Kopfstimme zu kommen, dann passt das bei 80 Prozent von ihnen. Bei 20 Prozent funktioniert es nicht auf diese Weise. Das höre ich nicht, wenn immer alle gemeinsam singen“, erklärt Sigmund Bothmann.

Dann kommt der Chorleiter und Kirchenmusikdirektor zumindest einmal kurz auf die Pandemie zu sprechen, winkt aber schon im ersten Satz wieder ab.

„Es hat uns nicht schlimm getroffen. Keine Ausbrüche, die Sänger sind uns treu geblieben. Wir haben jede Gelegenheit beim Schopf ergriffen, die sich uns geboten hat. Konnten Sänger nur einzeln proben, haben wir das gemacht. Dann zu fünft, später zu zehnt.“ Infektionen unter den Sängern habe es nicht gegeben. Ein Grund dafür könne sein, so Bothmann, dass sie sich nicht allzu oft in Situationen begäben, in denen sie sich einem hohen Infektionsrisiko aussetzen. „Denn eins haben viele Musiker gemeinsam. Sie sind keine Partyhasen. Durch die Kneipen ziehen, ja, das habe auch ich während meines Studiums gemacht. Aber Discos bin ich die meiste Zeit ferngeblieben.“

„Das ist ein abgedrehtes Stück“

Gütersloh (sib). Eine große Geburtstagsfeier plant der Bachchor nicht. Einzige Besonderheit zum 75-jährigen Bestehen ist ein Jubiläumskonzert am 31. Oktober. Lediglich ein gemütliches Beisammensein sei geplant, sagt Sigmund Bothmann. Mit den Sängerinnen und Sängern, dem Vorsitzenden des Fördervereins, mit Stefan Salzmann als Presbyteriumsvorsitzenden. Eingeladen sei auch Hermann Kreutz, ehemaliger Leiter des Bachchors, der Mitte des Monats 90 Jahre alt geworden ist (diese Zeitung berichtete). Mehr lasse allein die Pandemie kaum zu.

Jetzt aber noch eine Frage, eine klassische zum Jubiläum. Sigmund Bothmann hatte kurz zuvor gesagt, der Bachchor singe zu Ehren Gottes und für die Gemeinde.

Er hatte auch gesagt, das müsse und könne nicht immer Spaß machen, sei mitunter Schwerstarbeit, durch manche Stücke müssten sich die Sängerinnen und Sänger durchbeißen. Also, Herr Bothmann: Bei welchem Stück brauchten die Musiker besonders harte Zähne?

So lange der Chorleiter überlegt, wenn es um Veränderungen in der Chorlandschaft geht, so schnell schießt jetzt eine Antwort aus ihm heraus: „A Vision of Aeroplanes“. Das Stück, komponiert vom Postromantiker Ralph Vaughan Williams, für Chöre und nach einem Bibeltext, sei „wahnsinnig schwer“, betont Bothmann. 2011 brachte der Bachchor es in der Martin-Luther-Kirche zu Gehör.

Nach den Proben hätten sich die Sänger regelmäßig kollektiv den Schweiß von der Stirn wischen müssen, sagt Sigmund Bothmann. Noch immer gebe es den einen oder anderen Spaßvogel, der frage: „Können wir das nicht mal wieder singen?“ Glücklicherweise gebe es genug Gegenstimmen. Das Urteil des 57-Jährigen: „Das ist ein so abgedrehtes Stück, der blanke Wahnsinn.“

Dass der Chor in 25 Jahren seinen 100. Geburtstag feiert, dann also noch besteht, daran hegt Bothmann keine Zweifel. Egal, welche Verlockungen der Alltag mit sich bringe: „Gesang wird immer Menschen anziehen.“

Chronologie

1946: Eduard Hans Martin Gottfried Büchsel, Organist, Kantor und Kirchenmusiker, gründet den Evangelischen Bachchor. Nach kurzer Zeit zählt er 100 Mitglieder.

1957: Eduard Büchsel lässt den Chorgesang hinter sich. Er will sich lieber dem künstlerischen Orgelspiel widmen und sucht einen Nachfolger. Hermann Kreutz übernimmt die Rolle des Chorleiters. In den Folgejahren erlangt der Bachchor überregionale Bekanntheit.

1961: Der Evangelische Bachchor wird umbenannt in Bachchor Gütersloh – auch wenn er nach wie vor zur evangelischen Kirchengemeinde gehört.

1964: Mehrere Rundfunkgesellschaften, darunter WDR und NDR, werden auf den Bachchor aufmerksam. Sie nehmen zahlreiche a-capella-Stücke der Gütersloher Sänger auf.

1968: Der Bachchor nimmt eine Langspielplatte mit Bachchorälen auf – der Auftakt für viele weitere Tonträger.

1970: Der Bachchor kommt ins Fernsehen. Hermann Kreutz gestaltet regelmäßig offene Singen im WDR.

1990: Krankheitsbedingt gibt Hermann Kreutz das Ensemble an die beiden Bachchor-Sänger Wolfgang Jungekrüger und Carl Theodor Hütterott ab – übergangsweise.

1992: Sigmund Bothmann wird Chorleiter. Er bringt mehr Bach in die Chorarbeit und gestaltet mit den Sängern das gesamte Weihnachtsoratorium.

1993: Der Bachchor-Förderverein gründet sich.

2004: Unter Sigmund Bothmann führt der Bachchor die Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach auf. Dabei kommen auch historische Instrumente zu Gehör.

2005: Bothmann wird zum Kirchenmusikdirektor ernannt. Über die Jahre nimmt der Bachchor an zahlreichen Musikwettbewerben teil – unter anderem am Westfälischen Musikfest (1994) und am Europäischen Chorfestival (1996 und 2005).